"Sehen ist eine Voraussetzung zum Leben"


"Inzwischen wollte er das Volk wegschicken, nachdem er das getan hatte, stieg er auf einen Berg, um in der Einsamkeit zu beten."

Mt. 14, 22-23

Ist es Dir jemals aufgefallen (eingefallen), dass du nur dann lieben kannst, wenn du allein bist.

Was bedeutet überhaupt lieben?

Es bedeutet, eine Person, ein Ding eine Situation so zu sehen wie sie wirklich ist und nicht wie du sie dir vorstellst (einbildest) und auf sie so einzugehen wie (sie) es ihr zusteht (verdient). Du kannst nicht lieben (erleben) was du überhaupt nicht siehst (wahrnimmst).

Und was hindert dich am Sehen?
Deine Konzepte, deine Kategorien, deine Vorurteile und Projektionen, deine Bedürfnisse und Abhängigkeiten, die Etiketten (Klassifizierungen, Aufkleber), die du dir aufgrund deiner Konditionierung und deiner vergangenen Erfahrung zugelegt hast.

Sehen ist das Mühsamste (Unterfangen) was ein Mensch (menschliches Wesen) unternehmen kann. Denn es verlangt einen disziplinierten, wachsamen (lebendigen) Geist, während doch die meisten Leute eher in geistige Trägheit verfallen möchten, als sich die Mühe zu machen, jede Person und jedes Ding neu in der Frische eines (gegenwärtigen) Augenblicks zu sehen.

Deine Konditionierung (Prägung) fallen zu lassen, um zu sehen, (sehen zu können) ist mühsam genug. Jedoch verlangt Sehen nach noch viel mehr Schmerzhafterem: Die Kontrolle, die die Gesellschaft über dich hat, aufzugeben. Eine Kontrolle, deren Tentakeln bis zu den wahren Wurzeln deines Seins vorgedrungen sind, so dass aufgeben, dich selbst zu zerreißen, bedeutet.

Wenn du dies verstehen möchtest, denke an ein kleines Kind, dem der Geschmack (Verlangen) für Drogen vermittelt wurde. Sobald die Droge in den Körper des Kindes eindringt, wird es abhängig und sein ganzes Wesen schreit nach der Droge, ohne Droge zu sein bedeutet eine so unerträgliche Qual (Folter, Marter), dass man lieber sterben würde.

Dies ist nun genau das, was die Gesellschaft dir angetan hat als du ein Kind warst. Man hat dir nicht erlaubt, Spaß an der gediegenen, nahrhaften Speise des Lebens zu haben: Arbeit und Spiel, die Gemeinschaft mit anderen Leuten, die Freuden der Sinne und des Geistes. Man hat dir den Geschmack für die Droge beigebracht, die Anerkennung, Wertschätzung, Aufmerksamkeit und ebenso Erfolg, Prestige und Macht heißt. Einmal dies alles geschmeckt, bist du danach süchtig geworden (abhängig) und hast Angst bekommen, all dies wieder zu verlieren. Bei dem Gedanken an Versagen, Fehler und Kritik durch andere packte dich der Schrecken. Du bist nun (crevenly, flehentlich) erbärmlich von anderen Leuten abhängig geworden und hast deine Freiheit verloren.

Andere haben nun die Macht, dich glücklich oder unglücklich (elendig, erbärmlich) zu machen. Und in dem Maße wie du jetzt das damit verbundene Leid hasst, erlebst du dich total hilflos. Es gibt keine Minute mehr, bewusst oder unbewusst, in der du nicht auf die Reaktionen der anderen abgestimmt bist und nach der Trommel ihrer Forderungen marschierst.

Sobald du ignoriert oder missbilligt bist, erfährst du eine solche unerträgliche Einsamkeit, dass du zu den Leuten zurück kriechst, um bei ihnen um Trost zu betteln, genannt (bekannt) als Unterstützung (Support), Ermutigung, Beruhigung (Rückversicherung). In diesem Zustand bedeutet Leben mit den Leuten eine nie endende Spannung. Aber ohne sie zu leben, ruft sie die Seelenpein der Einsamkeit auf den Plan.

Du hast deine Fähigkeit, die anderen klar zu sehen wie sie sind und auf sie entsprechend genau einzugehen verloren, weil größtenteils durch dein Verlangen nach deiner Droge die Wahrnehmung der anderen benebelt ist.

Die Konsequenz daraus ist furchtbar (ungeheuerlich) und unentrinnbar: du bist unfähig geworden irgendjemand oder irgendetwas zu lieben. Wenn Du lieben möchtest, musst du wieder sehen lernen.

Und wenn du sehen möchtest, musst du deine Droge aufgeben. Von Deinem Sein (Wesen) musst du die Wurzeln der Gesellschaft, die bis ins Mark hineingedrungen sind, wegreißen. Du mußt rausfallen (drop-out werden). Äußerlich wird alles so weitergehen wie bisher. Du wirst weiter in der Welt, aber nicht mehr von der Welt sein. Und schlussendlich wirst du in deinem Herzen frei und völlig allein sein. Nur in diesem Allein Sein(All-ein), in dieser völligen Abgeschiedenheit, wird diese Abhängigkeit und das Verlangen sterben, und die Fähigkeit zu Lieben geboren werden. Denn die anderen werden jetzt nicht mehr als Mittel angesehen, die eigene Sucht zu befriedigen.

Den Schrecken (das Grauen) dieses Vorgehens (Prozesses) kann nur der kennen, der dies versucht hat. Du lädst dich quasi selbst zum Sterben ein. Es ist als ob man von dem armen Drogenabhängigen verlangte, die einzige Glückseligkeit, die er gekannt hat, aufzugeben und an ihre Stelle den Geschmack von Brot und Früchten und die reine frische Morgenluft und die Süße des Wassers aus dem Bergfluss zu setzen, während er verzweifelt kämpft, mit den Entzugsymptomen fertig zu werden und mit der Leere, die er in sich durchmacht, jetzt nachdem die Droge weg ist. Aber auch Nichts kann diese Leere füllen als seine Droge, suggeriert ihm sein fiebriger Verstand.

Kannst du dir ein Leben vorstellen, in dem du es ablehnst dich auch nur an einem Wort der Anerkennung und der Wertschätzung zu erfreuen oder dich am Arm eines anderen anzulehnen. Kannst du dir ein solches Leben vorstellen in dem du von niemandem emotional abhängig bist, so dass niemand mehr die Macht hat, dich glücklich oder elend zu machen. Du lehnst es ab, irgendeine bestimmte Person zu brauchen oder für jemand etwas besonderes darzustellen oder jemand anderen dein eigen zu nennen.
"Selbst die Vögel in der Luft haben ihre Nester und die Füchse ihre Höhlen, aber du wirst nicht wissen, wohin du dein Haupt legen wirst während deiner Lebenszeit (journey through life)."
(Mt. 8,20)

Wenn Du jemals in dieses Stadium kommen solltest, wirst du mindestens erfahren was es heißt mit einer Sicht zu schauen, die klar und unbewölkt von Angst und Verlangen ist. Und du wirst wissen was lieben heißt. Aber um in dieses Land der Liebe zu kommen, mußt du durch Todesängste hindurchgehen. Denn um Menschen lieben zu können, muss das Verlangen nach Menschen gestorben sein. Und dies bedeutet, völlig allein zu sein.

Wie wirst du jemals dorthin gelangen?

1. Durch unaufhörliche Wachsamkeit.
2. Mit der unendlichen Geduld und Hingabe (Mitgefühl), die du für einen Drogenabhängigen aufbringen würdest.
3. Auch könnte es für Dich eine Hilfe sein, Aktivitäten, die du mit deinem ganzen Sein anpackst, durchzuführen. Aktivitäten die du so gern tust, dass Erfolg oder Anerkennung oder Zustimmung überhaupt keine Bedeutung für dich haben, während du zugange bist.
4. Auch kann es eine Hilfe sein, wenn du zur Natur zurückfindest: Schicke die Menge weg und steig hoch zu den Bergen und trete still in eine Verbindung mit Bäumen und Blumen und Tieren und Vögeln ein, mit der See und dem Himmel und den Wolken und den Sternen. Dann wirst du erfahren, dass dein Herz dich in die unendliche Verlassenheit (Wüste) der Einsamkeit gebracht hat. Niemand ist dort an deiner Seite, absolut niemand.

Zunächst scheint dies unerträglich zu sein. Dies liegt daran, weil du ans Alleinsein (All-Ein-Sein) nicht gewöhnt bist. Wenn es dir aber gelingt, dort einige Zeit auszuhalten, wird die Wüste in Liebe aufblühen. Dein Herz wird jubilieren (burst into song). Und ewig wird Frühling sein.

Aus „Call to Love“ von Anthony de Mello
Verlag: Gujarat Sahitya Prakash. P. Box 70, ANHAND; Gujarat 388 001, India, 1996

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