Der Narr

Du fragst mich, wie ich zum Narren wurde?
Das geschah so:
Eines Tages, lange bevor die vielen Götter geboren waren, erwachte ich aus einem tiefen Schlaf und gewahrte, dass meine Masken gestohlen worden waren - die sieben Masken, welche ich in sieben Leben verfertigt und getragen hatte.
Unmaskiert rannte ich durch die vollen Straßen und schrie: "Diebe, Diebe, die verdammten Diebe!"
Männer und Frauen lachten.
Einige liefen aus Angst vor mir in ihre Häuser.
Als ich zum Marktplatz kam, rief ein Junge von einem Hausdach: "Er ist ein Narr!"
Ich blickte empor, um ihn zu sehen: da küsste die Sonne erstmals mein bloßes Antlitz.
Zum ersten Mal küsste sie mein bloßes Antlitz, und meine Seele entflammte in Liebe zu ihr, und ich wünschte mir keine Masken mehr.
Wie in Trance rief ich: "Segen, Segen über die Diebe, die meine Masken gestohlen!"
So wurde ich zum Narren.
Und in meiner Narrheit fand ich Freiheit und Sicherheit: die Freiheit der Einsamkeit und die Sicherheit vor dem Verstanden werden.
Denn diejenigen, welche uns verstehen, versklaven etwas in uns.

(aus Khalil Gibran: Der Narr)

Achte gut auf diesen Tag

Achte gut auf diesen Tag
denn er ist das Leben,
das Leben allen Lebens.
In seinem kurzen Ablauf
liegt alle Wirklichkeit und Wahrheit das Daseins,
die Wonne des Wachsens,
die Größe der Tat,
die Herrlichkeit der Kraft.
Denn das Gestern ist nichts als ein Traum
und das Morgen nur eine Vision.
Das Heute jedoch, recht gelebt,
macht jedes Gestern zu einem Traum voller Glück,
und jedes Morgen zu einer Vision voller Hoffnung.
Darum achte gut auf diesen Tag.

Bevor
Bevor mein letzter Atemzug getan ist,
bevor der große Vorhang fällt,
bevor die letzten Blumen auf mich fallen, will ich leben,
will ich lieben, will ich sein.
In dieser düsteren Welt, in dieser Zeit der Katastrophen,
in diesem kriegerischen Dasein.
Bei den Menschen die mich brauchen, bei den Menschen
die ich brauche, bei den Menschen die ich schätze,
bei den Menschen die ich kennen lernen möchte.
Um zu entdecken, um zu staunen, um zu lernen,
wer ich bin, wer ich sein könnte, wer ich sein möchte.
Damit die Tage nicht ungenutzt bleiben, damit die Stunden
ihren Sinn haben, damit die Minuten wertvoll werden.
Wenn ich lache, wenn ich weine, wenn ich schweige
Auf meiner Reise zu dir, auf meiner Reise zu mir,
auf meiner Reise zum Sein.
Auf Wegen die uneben sind, auf Wegen die dornig sind,
auf Wegen die ich kaum kenne,
die ich aber antreten will, die ich schon angetreten habe,
die ich nicht abbrechen will ohne gesehen zu haben
das Blühen der Blumen, ohne gesehen zu haben
das Rauschen des Flusses, ohne gestaunt zu haben,
das Leben ist schön.
Dann kann „Freund Hein” kommen, dann kann ich gehen,
dann kann ich sagen: „Ich habe gelebt”.
Hans Koller

Die Trauer kommt und geht ganz ohne Grund.
Und man ist angefüllt mit nichts als Leere.
Man ist nicht krank. Und auch nicht gesund.
Es ist, als ob die Seele unwohl wäre.
Man will allein sein. Und auch wieder nicht.
Man hebt die Hand und möchte sich verprügeln.
Vorm Spiegel denkt man: ”Das ist dein Gesicht?”
Ach solche Falten kann kein Schneider bügeln.
Vielleicht hat man sich das Gemüt verrenkt?
Die Sterne ähneln plötzlich Sommersprossen.
Man ist nicht krank. Man fühlt sich nur gekränkt.
Und hält, was es auch ist, für ausgeschlossen.
Man möchte fort und findet kein Versteck.
Es wäre denn, man ließe sich vergraben.
Wohin man blickt, entsteht ein dunkler Fleck.
Man möchte tot sein.
Oder Urlaub haben.

Erich Kästner (1936)

Urworte / Orphisch     

Johann Wolfgang von Goethe 1817

ΔΑΙΜΩΝ, Dämon
 Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
 Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
 Bist alsobald und fort und fort gediehen
 Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
 So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
 So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
 Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
 Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
 
ΤΥΧΗ, das Zufällige
 Die strenge Grenze doch umgeht gefällig
 Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt;
 Nicht einsam bleibst du, bildest dich gesellig,
 Und handelst wohl so, wie ein andrer handelt:
 Im Leben ists bald hin-, bald widerfällig,
 Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt.
 Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet,
 Die Lampe harrt der Flamme, die entzündet.
 
ΕΡΩΣ, Liebe
 Die bleibt nicht aus! – Er stürzt vom Himmel nieder,
 Wohin er sich aus alter Öde schwang,
 Er schwebt heran auf luftigem Gefieder
 Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang,
 Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder:
 Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang.
 Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen,
 Doch widmet sich das edelste dem Einen.
 
ΑΝΑΓΚΗ, Nötigung
 Da ists denn wieder, wie die Sterne wollten:
 Bedingung und Gesetz; und aller Wille
 Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten,
 Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;
 Das Liebste wird vom Herzen weggescholten,
 Dem harten Muß bequemt sich Will und Grille.
 So sind wir scheinfrei denn, nach manchen Jahren
 Nur enger dran, als wir am Anfang waren.
 
ΕΛΠΙΣ, Hoffnung
 Doch solcher Grenze, solcher ehrnen Mauer
 Höchst widerwärtge Pforte wird entriegelt,
 Sie stehe nur mit alter Felsendauer!
 Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt:
 Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer
 Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt,
 Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle Zonen –
 Ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen!

  • "Ja-!"
    "Nein - !"
    "Wer ist schuld?
    Du!"
    "Himmeldonnerwetter, laß mich in Ruh!"
    "Du hast Tante Klara vorgeschlagen!
    Du läßt dir von keinem Menschen was sagen!
    Du hast immer solche Rosinen!
    Du willst bloß, ich soll verdienen, verdienen -
    Du hörst nie. Ich red dir gut zu ...
    Wer ist schuld - ?
    Du."
    "Nein."
    "Ja."

    "Wer hat den Kindern das Rodeln verboten?
    Wer schimpft den ganzen Tag nach Noten?
    Wessen Hemden muß ich stopfen und plätten?
    Wem passen wieder nicht die Betten?
    Wen muß man vorn und hinten bedienen?
    Wer dreht sich um nach allen Blondinen?
    Du - !"
    "Nein."
    "Ja."
    "Wem ich das erzähle...!
    Ob mir das einer glaubt - !"
    "Und überhaupt -!"
    "Und überhaupt -!"
    "Und überhaupt - !"

    Ihr meint kein Wort von dem, was ihr sagt:
    Ihr wisst nicht, was euch beide plagt.
    Was ist der Nagel jeder Ehe?
    Zu langes Zusammensein und zu große Nähe.

    Menschen sind einsam. Suchen den andern.
    Prallen zurück, wollen weiter wandern ...
    Bleiben schließlich ... Diese Resignation:
    Das ist die Ehe. Wird sie euch monoton?
    Zankt euch nicht und versöhnt euch nicht:
    Zeigt euch ein Kameradschaftsgesicht
    und macht das Gesicht für den bösen Streit
    lieber, wenn ihr alleine seid.

    Gebt Ruhe, ihr Guten! Haltet still.
    Jahre binden, auch wenn man nicht will.
    Das ist schwer: ein Leben zu zwein.
    Nur eins ist noch schwerer: einsam sein.

    Kurt Tucholsky

Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.
Da hab ich ihm seine Himmel gegeben,
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt.

Rainer Maria Rilke

Niemand weiß wie reich du bist...

Freilich mein ich keine Wertpapiere,
keine Villen, Autos und Klaviere
und was sonst sehr teuer ist,
wenn ich hier von Reichtum referiere.
 
Nicht den Reichtum, den man sieht
und versteuert, will ich jetzt empfehlen.
Es gibt Werte, die kann keiner zählen,
selbst wenn er die Wurzel zieht.
Und kein Dieb kann diesen Reichtum stehlen.
 
Die Geduld ist so ein Schatz,
oder der Humor und auch die Güte
und das ganze übrige Gemüte.
Denn im Herzen ist viel Platz,
und es ist wie eine Wundertüte.
 
Arm ist nur, wer ganz vergisst,
welchen Reichtum das Gefühl verspricht.
Keiner blickt dir hinter das Gesicht.
Keiner weiß wie reich du bist...
 (Und du weißt es manchmal selber nicht.)                           
Erich Kästner

Desiderata

Gehe gelassen inmitten von Lärm und Hast
und denke daran, wie ruhig es sein kann in der Stille.
So weit als möglich, ohne Dich aufzugeben, sei auf gutem Fuß mit jedermann.
Das, was Du zu sagen hast, sprich ruhig und klar aus
und höre andere an, auch wenn sie langweilig oder töricht sind,
denn auch sie haben an ihrem Schicksal zu tragen.
Meide die Lauten und Streitsüchtigen, sie verwirren den Geist.
Vergleichst Du Dich mit anderen, kannst Du hochmütig oder verbittert werden,
denn immer wird es Menschen geben, die bedeutender und besser sind als Du.
Erfreue Dich am Erreichten und an Deinen Plänen.
Bemühe Dich um Deinen eigenen Beruf, wie bescheiden er auch sein mag;
er ist ein fester Besitz im Wechsel der Zeit.
Sei vorsichtig bei Deinen Geschäften, denn die Welt ist voller Betrüger.
Aber lass deswegen das Gute nicht aus den Augen,
denn Tugend ist auch vorhanden.
Viele streben nach Idealen, und überall im Leben gibt es Helden.
Sei Du selbst.
Täusche vor allem keine falschen Gefühle vor.
Sei auch nicht zynisch, wenn es um Liebe geht, denn trotz aller Öde und Enttäuschung verdorrt sie nicht, sondern wächst weiter wie Gras.
Höre freundlich auf den Ratschlag des Alters und verzichte mit Anmut
auf Dinge der Jugend.
Stärke die Kräfte Deines Geistes, um Dich bei plötzlichem Unglück
dadurch zu schützen.
Quäle Dich nicht mit Wahnbildern.
Viele Ängste werden durch Müdigkeit und Einsamkeit geweckt.
Bei aller angemessenen Disziplin, sei freundlich mit Dir selbst.
Genau wie Bäume und Sterne, so bist Du ein Kind der Schöpfung.
Du hast ein Recht auf Deine Existenz.
Und auch wenn Du das nicht verstehst, entfaltet sich die Welt
gewiss nach "Gottes" Plan.
Bleibe also im Frieden mit "Gott", was auch immer er für Dich bedeutet
und was immer Deine Sehnsüchte und Mühen
in der lärmenden Verworrenheit des Lebens seien -
bewahre den Frieden in Deiner Seele.
Bei allen Enttäuschungen, Plackereien und zerronnenen Träumen
ist es dennoch eine schöne Welt.
Sei vorsichtig.
Strebe danach glücklich zu sein.
(Max Ehrmann, deutsch-amerikanischer Dichter, 1872-1945)


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